Gewaltlosigkeit ist für unsere Gattung Gesetz, so wie Gewalt für das Tier Gesetz ist. Der Geist des Tieres ist unterentwickelt, und das Tier kennt kein anderes Gesetz als das der physischen Kraft. Dem Menschen gebietet seine Würde, einem höheren Gesetz, der Kraft des Geistes zu folgen.

Ueshiba Morihei

 

Im Kampf kommen mehrere Strategien zur Anwendung: die Strategie des Angriffs, des Gegenangriffs und der Verteidigung. Diese drei Momente haben eine klare chronologische Abfolge, die jedoch bei schneller Ausführung und bei flüssigen Bewegungen nicht immer leicht zu erkennen ist.

Der Angriff kann überraschend erfolgen. Er setzt immer eine gewisse Initiative auf seiten des Angreifers voraus und wird um so besser gelingen, wenn der Angegriffene schlecht vorbereitet, körperlich oder geistig indisponiert oder aus irgendwelchen Gründen der Situation nicht gewachsen ist. In allen Fällen enthält der Angriff in seinen Maßnahmen und seiner Strategie die Absicht, einem anderen zu schaden, ihn zu vernichten oder ihm Handlungs- und Bewegungsfreiheit zu nehmen. Sofort darauf erfolgt der Gegenangriff, der dieselben Merkmale aufweist wie der Angriff selbst und in den meisten Fällen auch eine gleiche oder ähnliche Strategie anwendet. Er richtet sich gegen die physische Person des ersten Angreifers, mit der Absicht, ihn zu vernichten. Sein Erfolg hängt ab vom Augenblick der Ausführung. Er darf nicht zu früh und nicht zu spät kommen; er muss innerhalb einer bestimmten Zeitspanne vollzogen werden, gleich nach der Vereitelung des Angriffs. Angriff und Gegenangriff sind in der Kampfkunst zwei reziproke Handlungen. Sie tragen dazu bei, dass der Dualismus "Angriff-Verteidigung" aufrecht erhalten wird, der erst mit der Kapitulation eines der beiden Protagonisten oder mit seiner partiellen oder totalen Vernichtung endet.

Von diesen beiden ersten Momenten des Kampfes unterscheidet sich das dritte, das ausschließlich in der Verteidigung besteht und immer erst nach einem Angriff eintreten kann. Anders als die beiden ersteren zielt die Verteidigung nicht darauf ab, den Gegner in seiner physischen Integrität zu verletzen, sondern will nur die Technik, die er anwendet, neutralisieren, die von ihm verfolgte Strategie unwirksam machen und verhindern, dass die gebrauchten Mittel (Waffen- und Körpertechniken) ihren Zweck erreichen. Sie ist also mehr als ein Ausweichen, und im Zusammenhang eines Kampfes dient sie meistens zur Vorbereitung der ersten Schritte eines Gegenangriffs. Das Ausweichen allein, ohne Eröffnung eines Gegenangriffs, belässt dem Angreifer die Möglichkeit, sich wieder zu fassen und einen neuen Versuch zu machen, sobald er seine Kräfte wieder gesammelt hat.

Alle Kriegskünste und alle Kampfsportarten bedienen sich des Angriffs, des Ausweichens und des Gegenangriffs, und alle haben das Ziel, den Gegner zu neutralisieren. Bemerkenswert ist, dass die Kriegskünste eine Vorliebe für die Methode des Ausweichens und des Gegenangriffs haben, zum Teil wegen der vorteilhaften Eigenschaften dieser beiden Momente, zum Teil gewiss auch wegen des ersten Prinzips jeder Kampfkunst, der Widerstandslosigkeit. Tatsächlich wird ja in den meisten Fällen bei einem Kampf zwischen vorbereiteten Gegnern - also ohne Überraschungsangriffe - der Angreifer, während er vorgeht, durch die eigene Strategie verwundbar gemacht, indem nämlich die eigene Sphäre, wo er sich normalerweise in völliger Stabilität, Verteidigungsfähigkeit und Sicherheit vor Angriffen befindet, gedehnt und vergrößert wird. Die Ausweitung dieses sicheren Kreises durch das Hervorstoßen der Angriffskraft und deren Übertritt über die Grenze bringt den Angreifer vorübergehend in eine heikle Situation und kann ihn unfähig machen, im Verlauf der eigenen Aktion auf einen Gegenangriff zu reagieren. Die eigene Stabilität wiederzufinden, wird um so schwerer für ihn sein, wenn das angegriffene Ziel in Bewegung ist und sich durch Ausweichen außer Reichweite bringt. Sofern er kein Meister in der Kunst des Angreifens ist und nicht jeden seiner Angriffe unter Kontrolle behält, lässt sich der Angreifer auf eine Selbstverunsicherung des eigenen Gleichgewichts ein, die sich der Gegner je nach seinen Absichten zunutze machen kann. Nach der Betrachtungsweise der Kriegskünste trägt der Angriff in sich selbst die eigene Schwäche, sogar dann, wenn er von einem die Technik vollkommen beherrschenden, koordiniert handelnden Meister seiner Strategie vorgetragen wird.

Der Gegenangriff ist deshalb so interessant, weil es um so "leichter" sein wird, den Angreifer durch ein Ausweichen aus seiner Stabilitätszone zu locken, je echter, ernsthafter und gewaltsamer der Angriff ist. "Leicht" ist das Ausweichen natürlich nur verhältnismäßig. Es ist der heikle Punkt der Methode. Es erfordert die Überwindung jeder instinktiven Furcht, die Beherrschung der primären Selbstschutzreflexe und genügend Kaltblütigkeit, um den Höhepunkt der Gefahr abzuwarten, den Augenblick, wenn der Angreifer keinesfalls mehr zurück kann: Er hat seine Maßnahmen nicht mehr unter Kontrolle, denn er ist auf dem Gipfel seiner Kraftentfaltung und außerhalb der Grenzen seiner Autonomie. Die ganze Kunst des Aikido, insofern es eine Kriegskunst ist, liegt in der Perfektion des Ausweichens in Raum und Zeit: des Tai-sabaki oder des Ausweichens durch Entziehen des Körpers. Aikido verfolgt nur die eine Absicht, vor dem Angreifer ein Vakuum zu schaffen und ihn, wie André Nocquet gesagt hat, "in sein Herz zu schließen", um ihn auf den Weg des Friedens zurückzuführen. Auf dieser höheren Stufe der Verteidigungskunst geht es darum, nicht mehr den Angreifer zu überwinden, sondern sich in Harmonie mit seinem Angriff zu versetzen, um ihn ins Nichts zu führen. Jedem neuen Versuch begegnet der Aikidoka in derselben wohlwollenden, doch energischen Haltung. Manchmal allerdings behält er sich die Möglichkeit vor, den Gegner durch Haltegriffe oder Einwirken auf schmerzempfindliche Stellen seines in eine ungünstige Lage gebrachten Körpers schneller zum Aufgeben zu zwingen.

So kann der Aikidoka das Ungleichgewicht des Gegners ausnutzen und dem Tai-Sabaki einen Wurf folgen lassen: Er kann das Ungleichgewicht auf die Spitze treiben und dem Angreifer jede Reaktionsmöglichkeit rauben, oder er kann ihn durch Immobilisierung von seinem Vorhaben abhalten. Höchstes Ziel im Aikido ist es, die gegnerische Kraft sich ins Leere verlieren und sich erschöpfen zu lassen, oder aber sie so zu lenken, dass sie sich gegen den Angreifer kehrt - dies freilich auf nicht-aggressive, gewaltlose Weise. Dies erfordert eine Umschulung aller Selbstschutzreflexe, mit dem Ziel, der Gefahr nichts mehr entgegenzusetzen als die Leere, die das Ausweichen schafft, oder, besser noch, schon zu siegen, ehe noch der Angriff im materiellen Sinne begonnen hat. Dazu muss man einen Zustand so wacher Bereitschaft erreicht haben, dass von den Elementen des Angriffs keines mehr unbemerkt bleibt, weder seine psychologischen Aspekte, noch die Mittel, die er einsetzt, oder die Art ihrer Anwendung. Damit ist schon gesagt, welch bedeutsame Rolle im Aikido von den ersten Übungsstunden an der Geist übernimmt: Zum einen leistet er die Beurteilung der gegnerischen Kräfte und bestimmt die geeignete Reaktion, zum anderen lenkt und dosiert er die Bewegung in der zweckmäßigsten Weise und unter Vermeidung von Verletzungen.

Der Weg des Aiki führt zum kampflosen Sieg. Dennoch ist dies kein leichter Sieg. Er wird nicht so direkt errungen wie im gewöhnlichen Zweikampf, bei dem nur die Technik und Kraft des Protagonisten den Ausschlag geben und der Stärkere unvermeidlich die Oberhand behält. Ohne die Bedeutung der Muskelkraft und einer zweckmäßigen Verteidigungsstrategie zu unterschätzen, betont Aikido von vornherein die Notwendigkeit, im Einzelnen die Gesamtheit all jener Fähigkeiten zu entwickeln, ohne die alle Technik und Kraft illusorisch und das Prinzip des Nicht-Streitens unanwendbar wären. Die Haltung, die der Aikidoka zu einer Aggression einnimmt, setzt einen starken, freien und gelassenen Geist voraus, der mit sich selbst ebenso in Einklang zu bleiben versteht wie mit den anderen.

aus: Aikido - Die Kampfkunst ohne Gewalt, André Protin