Dennoch bleibt die Frage offen, ob ein Mensch, der ein ganzes System von Angriffs- und Verteidigungsmaßnahmen perfekt beherrscht, immer und unter allen Umständen seines täglichen Lebens in der Lage sein wird, sich ohne Aggressivität und im Sinne des Friedens zu verhalten.

Um sie zu beantworten, müssen wir den Begriff der Selbstbeherrschung erklären und sehen, wieweit Selbstbeherrschung durch Übung in den Kriegskünsten erworben und entwickelt werden kann. Die Überlegenheit im Gebrauch einer Technik hat nichts mit jener echten Selbstbeherrschung zu tun, die das Verhalten formt, leitet und ihm Freiheit gibt. Die Geschichte der Kriegskünste lehrt uns, dass es zwischen der Beherrschung einer oder mehrerer Strategien (Geschick im Umgang einer Waffe, zweckmäßiges Verhalten unter den Kampfbedingungen, Kaltblütigkeit) und der Beherrschung des Verhaltens schon von Anfang an zu Verwechslungen kam, obwohl die erstere in enger Abhängigkeit von der letzteren stand. Die psychologische Vorbereitung, welche die Krieger von den in den Klöstern gelehrten Methoden übernommen hatten, gestattete es ihnen, in der kunstvollen Anwendung einer Technik eine gewisse Perfektion zu erreichen. Die Geistes- und Körperhaltung, die von den Kriegern angestrebt und von den kriegerischen Mönchen (wie z. B. Takuan) definiert wurde, fand in ihre Techniken Eingang. Der Kampf war der Prüfstein ihrer Kriegstüchtigkeit, die in der Strategie nur einen Ausdruck und ein Mittel der Reinigung und Verfeinerung fand. Die Lehren des Zen-Buddhismus wiesen den Kriegern den Weg zur Beherrschung der Emotionen, und das mindeste, was man sagen kann, ist, dass sie diese Lehren vorzüglich aufnahmen. Das oberste Ziel dieser mit den körperlichen Übungen eng verbundenen psychologischen Vorbereitung war kein geringeres, als ihnen alle ihre Kräfte und Anlagen bewußt zu machen, um sie auf diese Weise zur Kontrolle der Emotionen und zum besseren Gebrauch ihrer unbehinderten, unzersplitterten Fähigkeiten abzuleiten. Die Krieger, die sich in dieser Weise schulen ließen, begriffen sofort, welchen Gewinn sie für die Ausübung ihres Berufs daraus ziehen konnten. Von aller Todesfurcht befreit und im Bewußtsein ihrer technischen Möglichkeiten, konnten sie sich ganz der Erfindung und Vervollkommnung von Techniken widmen, die sie in die Lage versetzten, anderen den Tod zu geben oder ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, selbst zu empfangen. Für sie war dies nur eine äußerst zweckmäßige Verwertung der Forschungen, Entdeckungen und Lehren, die sie von den Mönchen aufgenommen hatten. Dies führte zu der Verwechslung zwischen der echten Beherrschung des Verhaltens, die dem Menschen dazu verhelfen soll, besser zu leben, und der Beherrschung der Strategie einer Art technischer Kompetenz, die eher auf den Tod ausgerichtet war.

Diese Lehren, die zum großen Teil von den Klöstern ausgingen, halfen den Kriegern bei der Ausbildung ihrer Anlagen, gaben ihnen ein klareres Selbstverständnis und sicherten den "Fortschritt" in einem Metier, das sie beherrschen mussten, da Leben und Tod davon abhingen. Die eigentliche Perspektive aber, so sehr ihre Selbstkenntnis auch zunahm, blieb immer die enge Perspektive des Kampfes. Es ist wahrscheinlich, dass eine solche Einführung in die Selbsterforschung bei den höheren Rängen der militärischen Hierarchie mehr Anklang fand. Hier, wo man weniger tief im Sumpf der Sippen-, Parteien- und Schulstreitigkeiten steckte, konnten solche Lehren einen neuen Horizont eröffnen, mit einer anderen Lebensauffassung, einer eigenen Bildungsform und so etwas wie Freiheit.

Nichtsdestoweniger hatte der gewöhnliche Krieger, den sein Treue-Eid und tausend Abhängigkeiten banden, niemals die Möglichkeit, sich von seinen höchst unsicheren Lebensumständen - mit all den Rivalitäten der Kriegerkaste und den Erfordernissen des Bushido - zu distanzieren, sich der bedingungslosen Unterwerfung unter seinen Kriegsherren zu entziehen und damit persönliche Autonomie zu erlangen. Sein Schicksal war immer auf engste durch seine Gruppenzugehörigkeit und eine durch den strengen Ehrenkodex noch verschärfte Abhängigkeit begrenzt. Im Zuge der Säkularisierung durch die Krieger verkürzte oder verlor sich die humane und soziale Tragweite der ursprünglich mehr auf Bildung und Kultur angelegten mönchischen Lehren. Zugleich aber waren es die Krieger, die diese Lehren in die breite japanische Gesellschaft hineintrugen. In den Händen des Bushi entfernten sie sich von dem humanistischen Vorbild, dem sie ihre Begründung verdankten. Dem Krieger halfen sie eher, sich einen kriegstauglichen Charakter zu schmieden, statt sich zu bilden und zu sozialisieren. Dennoch ist es nicht zu übersehen, welch wichtige Rolle die Krieger und waffentragenden Mönche bei der Ausbreitung der Grundlehren spielten. In gewisser Weise wurden sie zu Trägern und Vermittlern einer Erziehung zu Gelassenheit, Weisheit und Tüchtigkeit. Auch heute noch sind wir den Samurai und ihren Söhnen zu Dank verpflichtet für das dynamische Bild eines ritterlichen Geistes, einer entsprechenden Lebensauffassung, einer bestimmten Art des Daseins und Verhaltens in der Welt.

Ohne Zweifel haben sie diese auf Frieden ausgerichteten Lehren nach den eigenen Bedürfnissen umgedeutet und dadurch verengt. Doch in den ruhigeren Perioden ihrer Geschichte haben sie es dank dem guten Beispiel mancher Weiser unter ihren Waffenmeistern auch verstanden, ihnen ihren universellen Charakter und Bildungsgehalt zurückzugeben. Dies führte dazu, dass aus den Kriegskünsten ein echter Bildungsweg und das Waffenhandwerk zur Weisheitslehre wurde, die zur Beherrschung der persönlichen Emotionen und zum Streben nach Tüchtigkeit, den beiden Grundzügen des japanischen Charakters, erzog. Dieser positive und humane Aspekt ist der bleibende Wert, den wir im Sinne der Meister, die sie der modernen Welt angepasst haben, heute in den Kriegskünsten sehen und suchen müssen.

aus: Aikido - Die Kampfkunst ohne Gewalt, André Protin