Es ist zu vermuten, dass das Meister-Schüler-Verhältnis wahrscheinlich schon so lange besteht, wie es Menschen gibt. Überall dort, wo Wissen in irgendeiner Form weiter gegeben wird, entsteht eine solche oder ähnliche Beziehung; in jedem Unterricht, sei er nun praktischer oder theoretischer Art, können wir dieses Verhältnis beobachten. In unserem europäischen - und gerade speziell deutschem Kulturkreis - hat es beispielsweise im Handwerk das Meister-Schüler (Lehrling) -Verhältnis bis in die heutige Zeit gegeben und sie wird es wohl auch weiterhin geben, obwohl auch diese Beziehung in der Zwischenzeit mehr und mehr an Bedeutung verliert. Dennoch ist auch heutzutage die Ausbildung für einen Handwerkslehrling nur möglich, wenn er unter Aufsicht eines Meisters seine Lehr- und Ausbildungszeit absolviert.

So wie in der Vergangenheit des europäischen Kulturkreises die Tradition des Meister-Schüler-Verhältnisses zu beobachten ist, sind die gleichen Elemente dieser speziellen Beziehung auch in der Tradition des japanischen Lebensraumes zu erkennen. Aus der Geschichte Japans ist erkennbar, dass China einen staken Einfluss auf die japanische Geisteshaltung genommen hat. Hier vor allen Dingen in den religiösen und geistigen Bereichen sind die Strömungen des Buddhismus, Konfuzianismus und Shintoismus im täglichen Leben unübersehbar. In diesem Zusammenhang fällt auch das Verhältnis der Zen-Meditation in den Klöstern und dem Erlernen von Budo-Disziplinen ein. Auch bei dem Studium von künstlerischen Fertigkeiten, wie z. B. der Teezeremonie, Blumenstecken oder das Anlegen der berühmten japanischen Gärten, ist die besondere Beziehung zwischen Meister und Schüler nicht wegzudenken. In Japan nahmen die Meister Schüler in den Häusern auf, welche für ihre Unterbringung und Verpflegung bezahlten und auch zur täglichen Arbeit im Hause, wie z. B. Küchen- und Gartentätigkeiten, herangezogen wurden. Als Gegenleistung erhielten sie dann die Unterrichtung von ihrem Meister.

Bei den Meistern der Kampfkünste ist das Zusammenspiel von Bezahlung und Leistung besonders deutlich zu erkennen. So war es üblich, dass der Schüler für besondere Techniken zusätzlich zahlen musste. So wird beispielsweise berichtet, dass O-Sensei Morihei Ueshiba, als Schüler bei Meister Takeda, 50 Yen für eine besondere Technik bezahlte. Diese Verhaltensweise der Meister ist bei genauer Betrachtung durchaus verständlich. Die von Ihnen häufig gleichfalls durch Bezahlung erworbenen oder selbst von ihnen entwickelten Techniken waren ihr Kapital, von dem sie sich und auch ihre Familien ernährten. Mit den von ihnen entwickelten Techniken oder Stilrichtungen gelang es, sich von den anderen Meistern zu unterscheiden und auch abzuheben. Nur dieser Umstand versprach ihnen den ständigen Zulauf von neuen Schülern, die wiederum eine regelmäßige Einnahme für den Lebensunterhalt garantierten.

Bis heute war es in der Regel üblich, dass ein Meister mehrere Schüler hatte. Nur in seltenen Fällen trafen ein Meister und nur ein Schüler zusammen. In diesem Verhältnis fällt sofort die dominierende Stellung des Meisters auf. In seinem Fachbereich ist er es, der bestimmt. Jedoch bilden beide Personen eine Einheit, die nur bestehen kann, wenn beide miteinander harmonisieren. Fällt nun der Schüler aus der Einheit heraus, kann der Meister kein Lehrer mehr sein. Sein über Jahre oder Jahrzehnte erworbenes Fachwissen und Können kann nicht weitergegeben werden. Das Wissen des Meisters geht verloren. Das Können und Wissen versiegt mit dem Tod des Meisters . Für den Schüler gilt im umgekehrten Verhältnis auch: fällt der Meister aus der Einheit heraus, kann der Schüler nicht zu dem angestrebten Wissen gelangen. Für den Schüler ist die Einheit weitaus wichtiger, weil er ohne den Meister auf dem Weg des Lernen nicht weiterkommen kann. Ihm fehlt die praktische Anleitung in der Technik sowie in den geistigen Inhalten. Er kann alleine nicht den rechten Weg finden. Ihm fehlt die Hilfe, die es ihm ermöglicht zu unterscheiden, was ist richtig und was bedeutsam ist. Ein autodidaktisches Lernen kann ggf. bis auf eine gewisse Stufe sicherlich geführt werden. Es kann aber vermutlich nur bis zu einer unteren Ebene geführt werden. Der persönliche Kontakt mit einem Meister ist mit einer anderen Lernform nicht ersetzbar. Meister und Schüler sind also als gleich wichtig zu bewerten; das Wissen und Können des Meisters spielt natürlich eine dominierende Rolle.

Das Entstehen eines Meister-Schüler-Verhältnisses erfordert einen Rahmen. Zuerst ist die Bereitschaft des Meisters und Schülers zu erwähnen, um ein solches Verhältnis aufzubauen. Der Meister erklärt sich bereit, den Schüler an seinem Wissen teilnehmen zu lassen. Der Schüler wiederum unterwirft sich den Anforderungen des Meisters, um von ihm das gewünschte Wissen vermittelt zu bekommen.

Beim Meister kann davon ausgegangen werden, dass sich aufgrund seines langjährigen praktischen Übens und seiner daraus resultierenden Erfahrung ein hochentwickeltes Wissen und Können entwickelt hat. Dieses Wissen und Können darf sich jedoch nicht nur auf den praktischen Teil erstrecken, sondern muss auch auf geistige Inhalte erstrecken. Erst so besteht die Möglichkeit, dem Schüler allumfassende Kenntnisse zu vermitteln. Bezogen auf das Budo kann festgestellt werden, dass ein überragender Techniker nicht gleichzeitig ein guter Meister sein muss, wenn er seine Erfahrung nicht weitergeben und vermitteln kann. Wissen kann der Meister aber nur weitergeben, wenn er sich auch die Fähigkeit der Führung und Anleitung angeeignet hat. Das Erkennen und Erspüren der Schwächen und Stärken seines Schülers ermöglicht erst die Weitergabe des Wissens an ihn. Hierdurch kann er in bestimmten Situationen der Lernphase des Schülers (z. B. Schwächephasen) aufgrund seines Wissens über das Naturell seines Schülers diesen wieder leichter motivieren. So wird ein Meister durchaus menschliche Schwächen akzeptieren können, wenn der Schüler bereits charakterliche Stärke bewiesen hat. Dieses Verhalten schließt eine strenge Führung des Schülers nicht aus und ist durchaus vertretbar, wenn sie der Sache hilfreich ist und des Führens auf den richtigen Weg dient.

Für den Schüler ist von Wichtigkeit, seinem Meister auch zu vertrauen. Das bedeutet eine vorurteilsfreie Anerkennung und den Willen, Folge zu leisten. Dies fällt dem Schüler anfangs verhältnismäßig leicht, wenn ihm sein Meister ein Vorbild ist. Im Laufe der Entwicklung wird jedoch eine Situation entstehen, an der der Schüler das Gefühl hat, er bleibt auf der Stelle stehen. Hier erst wird sich zeigen, wie viel Vertrauen der Schüler seinem Meister entgegenbringt. Jetzt erst beginnt die Bereitschaft, sich von seinem Meister führen zu lassen. Vorschnelle Kritik oder Aufbegehren des Schülers in dieser Situation wird bald zur Auflösung des Meister-Schüler-Verhältnisses führen. Der Schüler muss zur Auffassung gelangen, dass sein Meister bemüht und in der Lage ist, ihn zu seinem Erfolg zu führen. Mit dem Wort „Vertrauen“ besteht natürlich auch eine Beziehung zu dem Begriff „Treue“. Dieser beinhaltet auch die Bindung an die Person des Meisters. Die Erfahrung zeigt, dass nach verhältnismäßig kurzer „Lehrzeit“ der Meister feststellen kann, inwieweit sein Schüler den Anforderungen nachkommt und entspricht. Erfüllt der Schüler diese Anforderungen nicht, wird der Meister das Verhältnis beenden.

Der meist anzutreffende Grund für eine Distanzierung des Schülers von seinem Meister ist neben beruflicher und familiärer Art der, dass beim Schüler im Laufe der Jahre eine Änderung seiner Persönlichkeit erfolgte. Der nun fortgeschrittene Schüler beurteilt jetzt mit Garantie einige Dinge anders als sein Meister. Diese Situation ist durchaus natürlich, da jeder Mensch einen etwas anderen Charakter aufweist und Geschehnisse um ihn herum immer in seiner subjektiven Weise beurteilt. Zwei Menschen betrachten einen gleichen Vorgang immer auf unterschiedliche Weise. Differenzierte Betrachtungsweisen beinhalten in sich Gefahren für das Verhältnis und machen sich insbesondere auch dann bemerkbar, wenn der Schüler nun als Meister auftritt und sein Wissen auf seine Art wiederum an andere Schüler weitergibt. Die Abweichung vom Lehrschema des Meisters stellt im gewissen Sinne einen Vertrauensbruch dar und lässt die ersten Risse im Meister-Schüler-Verhältnis aufkommen. Von besonderer Wichtigkeit ist jedoch der menschliche Aspekt in diesem Verhältnis. Wie sich Meister aus eigener Erfahrung erinnern können, war der eigene erste Meister vor Beginn des Verhältnisses aufgrund seiner von uns so empfundenen starken Persönlichkeit eine Art „Über-mensch“. Seine Fähigkeiten auf den technischen und geistig-menschlichen Gebiet machen einen nachhaltigen Eindruck auf den Anfänger. Seine Persönlichkeit schaffte anfänglich eine Distanz zum Schüler. Der Schüler ist dann bemüht, mit einem positiven Verhalten auf dem menschlichen und technischen Gebiet auf sich aufmerksam zu machen und Beachtung zu finden. Wenn dann der Meister sich mit dem Schüler beschäftigt und ihm sein Vertrauen entgegenbringt, wird der Schüler bemüht sein, dessen Weisungen kritiklos und kommentarlos nachzukommen. Im Laufe der Zeit entsteht durch das ständige Üben und Beisammensein eine enge persönliche, oft auch freundschaftliche Beziehung. Dabei lernt der Schüler auch den Meister in Bereichen kennen, die außerhalb des Budo liegen. Aufgrund dieses besseren kennen lernens löst sich die anfänglich vom Schüler empfundene und für ihn hemmende Ausstrahlung des Meisters. Die Distanz zwischen Meister und Schüler verschwindet allmählich. Durch gemeinsame Erlebnisse und Gespräche lernt der Schüler auch das Umfeld des Meisters kennen, folglich auch seine positiven und negativen Eigenschaften. Übrig bleibt der Meister als Mensch mit überdurchschnittlichen geistig-menschlichen und technischen Fähigkeiten, aber auch mit allen menschlichen Schwächen und Stärken. Die Geschichte zeigt, dass viele Schüler sich viel zu früh zu einem anderen Meister hingezogen fühlen, der für sie noch fremd erscheint, als ihrem bisherigen Meister beständig weiter zu folgen. Diese veränderte Orientierung führt oft bedauerlicherweise zur Trennung. Im technischen Bereich weist die Distanzierung des Schülers zu seinem Meister die gleichen Kriterien auf wie im menschlichen Bereich. Die anfängliche Ausstrahlung und das Fachwissen werden zur Gewohnheit und Selbstverständlichkeit und lassen Zweifel an den Fähigkeiten des Meisters aufkommen. Eine Trennung des Schülers von seinem Meister muss jedoch nicht grundsätzlich einer negativen Wertung unterliegen, sondern kann bei genauer Betrachtung auch objektiv das Richtige sein. Selbst O-Sensei Morihei Ueshiba hat sich von seinen Meistern getrennt, weil anscheinend die Zeit dazu reif war. Eine Trennung sollte wohl überlegt und nicht aus einer Laune heraus vollzogen werden. Der Schüler sollte sich dann überwinden, auf seinen Meister zuzugehen und ihn von seiner Entscheidung in der entsprechenden Form in Kenntnis setzen. Er sollte sich dankbar zeigen für das überlieferte Wissen. Denn nur aufgrund der Führung seines Meisters konnte er an den Punkt gelangen, wo er fähig ist, sich für einen anderen Weg zu entscheiden. Diesen Aspekt darf der Schüler nie vergessen und diesen muss er sich immer vor Augen halten, dann kann er nach wie vor mit seinem Meister in Freundschaft verkehren. Bei dieser Verhaltensweise wird sich der Meister auch großzügig zeigen und seine Arbeit als dennoch sinnvoll und erfolgreich ansehen können. Er wird weiter an einer freundschaftlichen Beziehung und einer guten Entwicklung seines ehemaligen Schülers interessiert sein.

Ein „typisches“ Meister-Schüler-Verhältnis, wie es traditionell in den japanischen Budo-Schulen vorzufinden war bzw. ist, kann in unserem Kulturkreis nur selten nachvollzogen werden. Mit Sicherheit ist dieses Verhältnis in der erwähnten Form und vor allem in dieser Konsequenz nicht in Vereinen durchführbar. Aufgrund der Tatsache, dass in den meisten Fällen Meister und Schüler im Berufs-, Schul- oder Familienleben stehen, kann eine ausschließliche Konzentration auf das Budo über einen jahre-langen Zeitraum nicht stattfinden. Das Meister-Schüler-Verhältnis füllt daher für beide nur einen Teilbereich ihres täglichen Lebens aus. Wie die Erfahrung zeigt, wird das Verhältnis von den familiären und beruflichen Problemen zur Seite gedrängt. Weiterhin ist zu beachten, dass Meister und Schüler oft nicht täglich beieinander sind. So hat der Meister nur an zwei oder drei Tagen in der Woche im technischen Bereich Einfluss auf seinen Schüler. Der Meister hat in der außerhalb des Trainings verbleibenden Zeit so gut wie keine ständige Einflussnahme auf seinen Schüler. Um diesen aber auch geistig ausreichend unterweisen zu können, reicht die vorhandene Trainingszeit allein nicht aus. Diese Tatsache schließt allerdings nicht aus, dass zusätzlich zum normalen Training eine separate Führung von speziellen und sich hervorhebenden Schülern erfolgen kann, welche eine zusätzliche Betreuung beinhaltet.

Als Quelle diente die Dan-Zulassungsarbeit von Walter Kunde.